Essstörungen früher und heute

Dieses Thema im Forum "Diskussionen" wurde erstellt von Soleil *, 18. Dezember 2010.

  1. Dreamdancer

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    Wow, ein faszinierendes Thema.
    Ich hab mal ein Buch über die Geschichte der Essstörungen gelesen, der Titel war irgendetwas mit Hungerkünstler und Wundermädchen.
    Obwohl diese Hungerkünstler eigentlich nicht essgestört waren, sie verdienten einfach ihr Geld damit, auf dem Markt in einem Käfig zu sitzen und möglichst lange nichts zu essen.

    Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Magersucht häufiger diagnostiziert und auch als eigenständige Krankheit definiert.
    Hab mal ein Bild gefunden:
    [​IMG]

    Und hier ein Wikipedia Artikel über die Geschichte: http://en.wikipedia.org/wiki/History_of_anorexia_nervosa

    Ich denke, zu dieser Zeit war es einfach so, materiell ging es den Menschen ganz gut, es war ausreichend Nahrung da, aber psychisch waren die jungen Frauen nicht so ganz gut dran. Sie hatten kaum Freiheiten, nichts für sich, möglicherweise autoritäre Eltern, und hatten ihr Hungern als einzige Waffe, um sich ein bisschen zu individualisieren. Und möglicherweise wollten sie auch dünner werden, um aus einer unerträglichen Situation zu fliehen. Dazu kam dann wohl auch ein sehr dünnes Schlankheitsideal. Also auch wieder mehrere Faktoren zusammen.
    Und sie hatten ihre eigenen Wege, um sich zu kontrollieren, wiegen und Kalorien gab es ja damals noch nicht.
    Also habe ich beispielsweise einen Bericht von einem Mädchen gelesen, das sich ein Band um die Taille geschnürt hatte, um sofort zu merken, wenn es dort an Umfang zunahm.

    In historischen Romanen tauchen auch immer wieder kurze Berichte über Essstörungen auf, wo ich natürlich nicht weiß, wieweit das die Autoren nur erfunden haben.
    Zum Beispiel in den 30iger Jahren, aber vor dem Krieg, hatte eine Romanheldin Probleme mit ihrem autoritären Vater, der ihr verbot, den Mann zu treffen, den sie liebte. Und sie fing an zu hungern, weil sie wusste, wie ihr Vater mäkeliges Essen hasste. Passiver Widerstand. Aktiv zu wiedersprechen traute sie sich nicht, weil er sie dann geschlagen hätte. Und nach einiger Zeit ging dann ihr Hunger zurück, sie ekelte sich vor Essen, stellte sich vor, wie es sich als Fettpolster an ihr absetzen könnte, und schränkte sich noch mehr ein. Sie wird aber annähernd geheilt, fängt wieder an, mehr zu essen, als sie einen Mann kennen lernt, den sie heiraten kann, und weg von ihrem Vater zieht.
    Eine andere Romanheldin lebte während des Krieges, war Musikerin, verachtete Menschen, die viel aßen und viele Kinder bekamen, weil sie es für unverantwortlich hielt, hatte Stress, Angst um ihre Lieben, und da wird dann irgendwann beschrieben, wie sie kaum noch etwas isst, immer dünner wird, ständig raucht usw. Aber da ist das wohl eher eine Kriegsnebenwirkung, und wenn sie doch einmal etwas wirklich Gutes zur Verfügung hat, verweigert sie es nicht, also das ist dann wohl keine Essstörung.

    Damals haben sie das den Frauen aber oft abgenommen, dass sie keinen Hunger hatten, und sie wurden zur Kur geschickt ans Meer oder in die Berge, und die Familien hofften dann, dass da der Appetit wieder steigen würde.

    Schade, dass es damals noch kein Internet gab, dann könnte man nachlesen, was die Erkrankten damals so dachten.

    Aber all die Beschreibungen sind nur über Magersucht, Bulimie und Binge eating sind neue Krankheiten, die tatsächlich erst im 20. Jahrhundert aufgetreten sind. Naja, früher gab es ja noch keine Supermärkte, wo man all diesen FA-Mist kaufen konnte.
     
  2. ehemaliges Mitglied

    Soleil_alt

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    Dabei seit 18. Dezember 2010
    Ja, so direkt als Störungen waren ES nicht immer definiert, ich glaube trotzdem, dass das auch früher dann schon eine gewisse Problematik (im eigenen Leben, Denken, etc.) vorhanden sein musste um z. B. überhaupt wirklich ernsthaft in Erwägung zu ziehen, sich evtl. als Hungerkünstler zu verdingen. Oder wenn es an Nahrungsmitteln fehlte (in Fällen, bei denen später aber wieder mehr Lebensmittel erhältlich waren) kann ich mir auch gut denken, dass die Menschen sich das Verhalten nicht mehr abgewöhnen konnten. Oder dass es auch ins Gegenteil umschlug, wegen der Panik, dass sowas wieder passieren könnte.

    Auch Kriegserfahrungen können durchaus der Auslöser für eine ES sein, Krieg traumatisiert eben. Und auch die meisten Essgestörten haben ihre Traumata im Gepäck.

    Hier möchte ich noch hinzufügen, dass Kriegserfahrungen in vielen Fällen sozusagen zur "Traumakategorie II" gehören, mir fällt leider der exakte Begriff gerade nicht mehr ein ... Das ist deshalb so, weil viele noch irgendwie ihre Verwandten mit um sich rumhatten oder anderweitig jemanden, mit dem sie mal ein paar Worte wechseln konnten und der sie verstanden hat, weil sie eben "alle im gleichen Boot" saßen. In einem ziemlich schrecklichen, das will keiner bezweifeln ... Auch Traumatisierte von Naturkatastrophen fallen meistens in diese Kategorie. Was die "Kategorie I" angeht, da handelt es sich dann um Erlebnisse, die ebenfalls übelst traumatisierend waren und bei denen der/die Betroffene KEINE Chance hatte, dass jemand zuhört. Kinder, die in Keller gesperrt werden, dort festgehalten, vergewaltigt, geschlagen, was auch immer. Da liest man ja auch so einiges. Die müssen da tatsächlich allein durch.

    Salopp gesagt: Für den einzelnen gibt es u. U. Schlimmeres als Krieg.
    Dem Unter- oder Unbewusstsein eines Einzelnen ist das egal, ob die ganze(!) Welt Krieg und dergleichen als das größte Schrecknis betrachtet, das überhaupt möglich ist.
    (Sicher, da sag ich eigentlich auch: Die Menge machts. Aber jetzt gewöhne ich mir den Tonfall mal wieder ab, ich hoffe, das versteht mal eben keiner falsch.)

    Das mit den Kategorien klingt immer etwas bescheuert, denn letztlich finde ich es übergeordnet(!) wichtiger, dass dem Einzelnen dann zugehört und geholfen wird. Ich wollte damit nur verdeutlichen, dass man die Kriegserfahrungen etc. von einer möglicherweisen nachfolgend in Erscheinung tretenden Essstörung nicht einfach so abgrenzen kann, "nur weil die nix hatten". Ich hoffe, dass das nicht falsch verstanden wird, denn das passiert auf unserem Superplaneten dann doch auch so schon oft genug. *heart*

    So insgesamt denke ich, an den Grundlagen für die Essstörung hat sich eigentlich nicht viel geändert, nur die Möglichkeiten sie "auszuleben" sind expandiert und man hat endlich Wörter dafür gefunden, die´s besser treffen.

    Du schreibst ja, die Romanheldin fing an zu hungern WEIL. Es ging von ihr aus. Es ging um Widerstand usw. Also, auch wenn ohnehin nicht so irre viel Nahrungsmittel vorhanden waren, so sollte man doch allmählich dazu übergehen, das ernst zu nehmen, wass der/die Essgestörte als Grund angibt und sich nicht so sehr drauf versteifen, was doch inzwischen alles da ist und man müsse doch nur wollen ... Vielleicht war das auch schon früher genau die falsche Richtung, dass man aufgrund der "Sowieso-Knappheit" die Leute, die dann "erstrecht" aus irgendeinem Grund gehungert haben, nicht wirklich ernst nahm und somit auch in Sanatorien usw. nicht helfen konnte. Früher war mitunter die Lebensmittelknappheit der Knackpunkt, an dem dann mancher auf die Idee kam, den Hunger als "Waffe" zu benutzen (bis hin zur Sucht nach ebendieser "Waffe"), heute kann ein dämlicher Kommentar in der Schule der Auslöser sein, der das Fass dann zum Überlaufen bringt ... usw.
    Ist ein weites Feld, da kann man ewig drüber debattieren.

    Ja, doch, es gan auch schon früher sehr adipöse Menschen. Google mal "freakshow" oder "carnival". Aber vorsicht, das ist alles nicht gerade für allzu Zart-Besaitete, denn damals wurde das ein bisschen anders gehandhabt. (Auch was andere, optisch auffällige oder körperlich "missgestaltete" Menschen anging)

    Danke für deinen Beitrag, Dreamdancer. Jetzt bin ich endlich wach. :)
     
  3. ehemaliges Mitglied

    Lilienne

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    Dabei seit 20. Dezember 2010
    Ich danke dir auch Dreamdancer für deinen Beitrag :)

    Auch dir Soleil, von den Kategorien habe ich noch nie gehört. Wusste nicht, dass da so ein Unterschied von gemacht wird.
     
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  4. ehemaliges Mitglied

    Soleil_alt

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    Dabei seit 18. Dezember 2010
    Nee, das ist nicht so dermaßen "kategorisiert", dass sich da jeder Gedanken machen müsse. Wieso da so ein "Raster" erstellt wurde, weiß ich nicht, aber ich schätze mal, das ist eher für die ganze Theorie und damit behandelnde Ärzte, Psychiater, usw. da ´n Hilfsmittel haben in Bezug auf die Wahl der richtigen Behandlung.

    Ich habe das nur erwähnt, weil mir nicht klar ist, wieso Leute, die z. B. den Krieg erlebt haben und(!) irgendwann selber ein für jetzige Begrifflichkeiten "gestörtes Essverhalten" dann auch selber(!) "angeleiert", entwickelt oder beibehalten haben, da so außen vor gelassen werden. `ne Essstörung ist ja doch meistens eine Folge von Traumatisierung.. So auch zum Beispiel Kindsoldaten. Die werden ja "ausgebildet", damit sie in den Krieg geschickt werden können.
    Wenn es da tatsächlich mal gelingt, ein Mädchen oder einen Jungen rauszuholen aus dieser Scheiße, ... und es gibt Stellen, wo denen dann geholfen wird, da stehen auch Nahrungsmittel zur Verfügung (wenn auch nicht in dem Ausmaße wie bei uns). Aber ich kann mir kaum vorstellen, dass die hinterher keine Probleme haben. Vielleicht wird so manch vergewaltigtes/r Mädel/Junge dann auch vor dem Essen so seinen Grusel haben. Obwohl ja plötzlich was da ist. Ich glaube, es wird zu viel übersehen. Bestimmte Leute dürfen alle möglichen Probleme haben, nur eine Essstörung kann´s dann ja nicht sein. Seltsame Logik. Aber man müsste da direkt Meinungen von Menschen hören, die sowas überlebt haben und immernoch mit ihrem Essverhalten Schwierigkeiten haben.

    Menschen, die akut in Hungersnot leben, sind damit natürlich nicht gemeint.
     
  5. ehemaliges Mitglied

    Lilienne

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    Dabei seit 20. Dezember 2010
    Hmm darauf weiß ich ehrlich gesagt auch keine Antwort. Die Gewöhnung kanns ja nicht sein, also kann ich mir einfach nicht vorstellen.
    Aber vllt hat sich der Körper daran gewöhnt wenig Essen zu haben? Sowas gibts ja auch. Vllt überträgt sich sowas dann auf die Psyche.
     
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  6. ehemaliges Mitglied

    Soleil_alt

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    Dabei seit 18. Dezember 2010
    Kann mir schon vorstellen, dass es Menschen gibt, die dann mit der neuen Situation nicht umgehen können und von daher das vorherige Essverhalten mehr oder weniger beibehalten. Klingt jetzt blöderweise harmloser als es gemeint ist. Aber es gab da ja mal diesen Versuch mit den Männern, der schon irgendwo im Öffentlichen Bereich erwähnt wurde. Viele der Männer hatten hinterher tatsächlich eine Essstörung.

    Es geht bei einer Essstörung eben doch nur oberflächlich gesehen ums Essen. Das glaube ich also nicht hundertprozentig, dass es dann in "knappen Zeiten" kein wie auch immer gestörtes Essverhalten gab, bzw. vielmehr nachher, also nach den schlimmen Erlebnissen. Vielleicht kann man´s ein bisschen damit vergleichen, dass Menschen, die in übelsten Gefängnissen gefangen gehalten und gefoltert wurden und werden, sehr auf auch anfangen sich selber zu verletzen. Müssten sie ja eigentlich auch nicht tun, wenn nicht gerade jemand von den Wärtern sie verprügelt. Hm ...

    Dass sich der Körper ein ganzes Stück weit an "wenig Essen" gewöhnt, sieht man schon an Leuten mit Magersucht o. ä. Ich denke schon, dass das auch sein kann, wenn jemand nicht selber mit dem Hungern usw. anfängt, sondern weil nicht genug Nahrungsmittel da sind.

    Schätze mal, die Menschheit war schon zu allen Zeiten ziemlich bunt. Drum schließe ich das nicht aus, dass es das gestörte Essverhalten und die Gründe, die die Leute selber dafür hatten (wenn auch nicht bewusst) auch nicht erst seit den letzten paar Jahrzehnten gibt.
     
  7. Gast

    weakly

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    Ich kann jetzt nicht mit dem Mittelalter dienen aber meine Mutter (Jahrgang 1926) hat mir einmal folgendes gestanden:

    Sie war als junges Mädchen (etwa zu Ende des Krieges?) mit Tuberculose in einem Lungensanatoruim. In der Zeit, als es ihr richtig schlecht ging, hing sie sehr an einer Krankenschwester, die sie sehr bemuttert hat. Als es ihr dann etwas besser ging und sie etwas Gewicht zu nahm, hatte sie wohl die Befürchtung, zu Zuneigung dieser Schwester zu verlieren und hat regelmäßig erbrochen um nicht weiter zu zu nehmen. Das, in einer Zeit, in der viele Leute nicht genug zu essen hatten.
    Ein extremes Schlankheitsideal hat sie ihr Leben lang behalten (und ich vermute, in gewisser Weise an mich weitergegeben).
     
  8. ehemaliges Mitglied

    lovely

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    Dabei seit 30. Juni 2009
    @Weakly:

    Sehr interessanter Erfahrungsbericht! Das zeigt mir auf, dass es doch nicht nur mit den guten finanziellen Mitteln und den Lebensmittelüberangebotheute zu tun hat, sondern am Ende noch viel viel mehr als nur eine psch. Störung hinter der ES steckt. Gerade bei der Bulimie heißt es ja immer, dass es die ES des modernen Überfluss ist. Ich denke aber, jede ES ist gleich-nur der Mensch dahinter ist eben individuell und lebt die ES daher anders aus (hungern, kotzen, bingen)
     
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  9. ehemaliges Mitglied

    Soleil_alt

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    Dabei seit 18. Dezember 2010
    @weakly: So in der Art meinte ich das. Die Gründe waren eben an die Zeit "angepasst", aber dennoch den heutigen Gründen dafür sehr ähnlich, auch wenn sich die Rahmenbedingungen geändert haben. Danke für deine Offenheit.
     
  10. Gast

    Kamikatze

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    Die Geschichte mit deiner Mutter finde ich ja heftig! So wirklich darüber nachgedacht wie lange es Essstörungen schon gibt, habe ich bisher noch gar nicht. Ist mal echt interessant!!!!